Griffen und Umgebung in Peter Handkes Literatur (Auswahl)

DHoDie Hornissen (1966)

Schilfsee

"Während die drei Männer mit dem Karren über die Landstraße gingen, war der Vater des Erzählers vorne am Bug an den selbstgezimmerten Planken gekauert, die Knie im schwarzen wimmelnden Schlamm, der durch die undichten Planken quoll; er hatte, während sie unentwegt mit dem Karren über die Landstraße gingen, als ein schnellender Schilfhalm ihm ins Gesicht hieb, grollend unter Zähneknirschen Luft und Wasser und Erde verflucht, hatte mit der Sichel den schuldigen Halm aus dem Wasser gerissen, war durch diese Bewegung vornüber gerutscht, war vom Gürtel aufwärts über den Planken gebaumelt, hatte baumelnd die Halme gebündelt, hatte den Hasch (der in der fremden Mundart eine für das Vieh gut freßbare Wasserpflanze bedeutet) zu Bündeln gepreßt, hatte ihn in den klobigen Fäusten zu Büscheln gepreßt, hatte ihn krachend zu sich in das Boot gebogen, hatte schon ein anderes Bündel gefaßt, hatte es im schneidenden Sausen und Zischen der Sichel über die Planken gerissen, riß das Büschel über die Planken, riß das nächste über die Planken, hatte ein weiteres über die Planken gerissen, war bereits, während die Pflanzen hinter ihm in dem Boot milchig und grün seinen Rücken anfüllten, mit den wuchtigen Stößen des Ruders weitergefahren, hatte das knirschende Ruder gegen die Richtung der Fahrt gestellt, wurde durch das Bremsen nach vorne gestoßen, hatte sich wieder auf und zurück gesetzt, hatte sitzend, während seine Hände das Ruder festhielten, triefend und tröpfelnd vor Nässe das Ermatten des Schwappens erwartet, hatte sich auf die Knie gelassen, war dort gekniet, Schnee in der Krempe und im Knick seines Huts, Rauch vor den anteilslos paffenden Lippen; hockte hierauf von dem Schnee umflirrt, schwarz in dem Haufen des Futters und hielt, während unentwegt die Männer mit dem Karren über die Landstraße gingen, seine Rast im Gewirre des Schilfs, in dem Schilfmeer, das den Erzähler immerfort taumelig machte, nah bei sich die klar gezeichneten Halme mit den dickeren Knoten, dahinter ununterscheidbar nichts als den tiefen, fahlgrünen Raum, in den raschelnd und knisternd der Schnee fiel." (S. 23-24)

Kino

"Der Filmvorführer, eine Bierflasche zwischen den Knien, der Filmvorführer, drei geschichtete Brotscheiben unter den Fingern, drei geschichtete Brotschreiben in dem aufgewühlten maulenden Mund, der Filmvorführer liegt auf drei Stühlen oder auf zwei Stühlen und einem kleineren Schemel, er liegt in seiner Kabine hinten über dem Garten, die geleerte Flasche mit den Schaumnetzen steht, wo sie steht, oder sie liegt, wo der Ort für die gelehrten Flaschen ist, unter dem Mann oder woanders." (S. 202)

Schottergrube

"Du siehst vor Dir eine Sandgrube mit Büscheln von Gras an den Wänden, aus denen sich dunkel Sandschleier lösen und wolkig auf die hellgrau gebrannten Halden stäuben. Was Du gehört hast, war vielleicht das Rieseln dieser Sandschleier, das Kollern des Schotters oder das Rattern und Poltern dieser Rohstoffe in dem Sieb, das unten auf dem Boden der Grube von einem Mann mit entblößten Oberkörper gerüttelt wird." (S. 268)

Milchstand

"Sonst stehen die Kannen auf den Bohlen; jetzt aber ist dieser Milchstand leer. Er ist mit sich uneins, ob er sich auf die Bohlen setzen solle oder darunter in die gekreuzten Verstrebungen unter den Bohlen. Sie Schwäche des Leibes kommt ihm, bevor er sich entschieden hat, zuvor, indem sie ihm, bevor er sich entschieden hat, zuvor, indem sie ihn von den Gedanken entfesselt und ihn, während er den Kopf an die Brust krümmt, in die Verstrebungen befördert. Für diese sind die abgefallenen Latten von einem Sägewerk verwendet worden, an denen er unter der Hand noch an den Kanten die Rinde verspürt.
Er sitzt schief unter seinem Obdach über dem Kopf die Bohlen, die oben, wo sonst die Kannen stehen, kartätscht und gesplittert sind." (S. 236)

(Die Seitenangaben richten sich nach der korrigierten und leicht gekürzten Ausgabe von 1977.)

 

DUDie Unvernünftigen sterben aus. (1973/1974)

Kindheitserinnerung

"V. WULLNOW: Es war nur die Erinnerung. Pause. Die Korntruhen auf dem Dachboden, das rieselnde Korn und der Mäusedreck drin, die Kornwirbel, in die die Erinnerung einsank als nackter Knabenfuß, die Körner zwischen den Zehen, das leere und von der Erinnerung doch so beseelte Wespennest an der Unterseite der Ziegel." (S. 69)

 

DSEDie Stunde der wahren Empfindung (1975)

Kindheitserinnerung

"Am Rand des Parks bewegte sich hinter Gebüschen blaue Wäsche und erinnerte ihn rätselhaft an seinen Geburtsort, nicht an ein besonderes Ereignis, sondern eine lange, tödliche Ereignislosigkeit." (S. 155)

"So im Gehen sah Keuschnig plötzlich einen Hohlweg in der Nähe seines Geburtsorts, mit dünnen, naßschwarzen Blaubeerenwurzeln an den Seitenwänden, wo er als Kind oft nach Lehm gegraben hatte, aus dem dann Murmeln oder auch Wurfgeschosse geformt wurden." (S. 14ff.)

 

LHLangsame Heimkehr (1979)

Sprache

"Es waren indianische Laute, die aus der menschenleeren Stromrinne widerhallten, und doch glaubte Sorger (ohne daß er ein einziges Wort verstand), seine eigene Sprache zu hören, ja die besondere Mundart der Gegend, die die Heimat seiner Vorfahren gewesen war." (S. 70)

  

ÜDÜber die Dörfer (1981)

Elternhaus

"GREGOR: […] Ich kann nicht wegdenken, dass es sich um das Haus unserer Eltern handelt. Sie haben es fast allein erbaut und sich dabei um einige Lebensjahre gebracht. Auch das Grundstück wurde erst durch ihre Hände nutzbar gemacht: Sie haben in einem Felsen eine Quelle gefasst und von dort das Wasser in langen Rohren metertief unter der Erde – weißt du, was das heißt? – zu Haus und Garten geleitet. Die Steinblöcke wurden zu Terrassenmauern geschichtet und auf dem steinfreien Erdreich stehen jetzt Obstbäume, oder es wächst einfach nur Gras, von dem aber jeder einzelne Fleck seinen besonderen Namen hat." (S. 17)

Wegkreuzung

DIE ALTE FRAU: […] Nach der Brücke gehen drei Wege auseinander. Der erste führt bachaufwärts in die Schlucht, wo früher die Mühlen standen. Jetzt sind davon nur noch die dachlosen Mauern übrig, die Mühlensteine liegen weiter unten im Tal vor den Häusern, und aus den Löchern in der Mitte wachsen Blumen, die keine Blumen mehr sind. Am Eingang der Schlucht leuchten noch die hellroten Himbeeren, aber weiter drinnen, sowie es dann lichtlos und feucht wird, wächst nur noch fruchtloses Buschwerk, oder die Beeren werden nie reif, oder die weißlichen Würmer hängen daran. Das letzte Hochwasser hat ein paar Stege weggerissen, die kein Mensch wiederherstellen wird. […]  – Der zweite Weg ging früher bachabwärts durch die Felder. Das Land ist immer noch bebaut, aber anstatt der einzelnen Äcker steht da nur noch ein großes Feld, bepflanzt mit Viehfutter, das nicht mehr 'Mais' heißt, sondern nach den Türmen genannt ist, in denen es vergoren wird. Es wächst so hoch, daß das Dorf dahinter nur im Winter sichtbar wird. [...] – Der dritte Weg ist die Straße ins Dorf, und wo einmal die verschüttete Milch auseinanderrann, schillern im Teer die Ölflecken, und von allen Geräuschen ist dort das Geräusch der Fahrradklingel noch das anheimelndste." (S.  62f.)

 

DWDie Wiederholung (1986)

Obsgarten des Onkels

"Das Besondere an dem Obstgarten des Bruders war, daß er weit außerhalb des Dorfes lag, umgeben von Acker- und Weideland, an einer Seite begrenzt von einem kleinen Mischwald, während sonst die Gärten gleich hinter den Häusern anfingen, von der Straße aus unabsehbare Baumfluchten, an deren Ende man sich nur noch die Brachebene vorstellen konnte, mit Rinkenberg als Apfel- und Birneninsel am Rand. Ein anderer Unterschied: Die Bäume des Bruders waren plantagenhaft niedrig, und jeder, bis auf die dorfüblichen Gruppen von Zwetschken und Mostbirnen am Eingang, welche das Wesen des Gartens gleichsam tarnen sollten, trug eine andersschmeckende Frucht; ja es gab sogar Bäume, wo von einer Astetage zur nächsten die Sorte wechselte, und Gipfel, unter den Mostbirnen den einen, heimlichen, nur der Familie bekannten Zweig mit Früchten täuschend ähnlich denen am Nebenzweig, welche einem aber, wenn man in sie hineinbiß, nicht – so der geläufige Spruch – 'das Arschloch zusammenzogen', vielmehr die Augen aufgehen ließen." (S. 165ff.)

Großvaterhaus

"Wie habe ich im Lauf der Jahre einen Platz zum Lesen der Bücher gesucht! Hinter dem Milchstand am Wegdreieck bin ich gesessen, auf der Bank am Bildstock weit weg in den Feldern, auf einem abgeschiedenen Uferstück unten im Trogtal der Drau, zu meinen Füßen das gestaute Wasser so glatt, daß Unten, der Fluß, wie Oben, der Himmel, war … […] Der einzige Stammsitz des Lesers ist, bis heute, die längst zu Brennholz gehackte Truhe auf der Galerie des Vaterhauses geblieben." (S. 155-156)

Tropfsteine und Erinnerungen

"Verhielt es sich mit jenen vermeintlichen Elementarteilchen nicht ähnlich wie mit den Tropfsteinen, die in ihrer Grotte, im Kerzenflackern, einen Schatz verheißen und dann, abgeschlagen, draußen im Tageslicht, in der Hand des Räubers nur noch steinerne gräuliche Kartoffeln sind, wertloser als jeder Plastikbecher? Nein. Denn was zu finden war, ließ sich nicht mitnehmen; es ging nicht um die Dinge, die man, in den vollgestopften Taschen, wegschleppte, vielmehr um ihre Modelle, die sich dem Entdecker, indem sie sich zu erkennen gaben, einprägten in sein Inneres, wo sie, im Gegensatz zu den Tropfsteinen, aufblühen und fruchtbar werden konnten, zu übertragen in gleichwelches Land, und am dauerhaftesten ins Land der Erzählung." (S. 284)

 

GDGedicht an die Dauer (1986)

Schilfsee

"Den 'Griffener See' kennt kein Auswärtiger,
und selbst manche Kinder meines Geburtsdorfs
wissen heute wohl nicht mehr,
daß in ihrer Nähe ein See ist,
von dem es, zwischen den Kriegen,
noch Ansichtskarten gab mit Seerosen
und dem Aufdruck 'Griffen am Griffener See'.
Und doch ist die verlandete Lache,
welche bald völlig verschwunden sein soll
– so denken die Terrassenplaner der Autobahn –,
ein großer Ort der Dauer für mich.
In der Kindheit begleitete ich den Großvater
dorthin zum Futterschneiden.
Der See lag, jenseits der asphaltierten
Durchfahrtsstraße
und dann noch jenseits der schotterten
'Alten Straße',
verborgen in einer Senke am Fuß jenes Berges,
nach dem eine Schlacht des Mittelalters
benannt ist,
'die Schlacht am Wallersberg',
und welchen ich immer wieder durchstreifte
auf der Suche nach verrosteten
Waffenresten
aus jenem vierzehnten Jahrhundert.
Wir stießen vom Ufer ab
in einem fast viereckigen Nachen,
der in der Mundart 'Schinakel' hieß,
und stakten durch dichtes Schilf hinaus zu der Stelle,
die unser Pachtbezirk war;
und wo die grünlichen saftigen Wasserpflanzen standen,
der 'Hasch', ein Llieblingsfressen der Kühe,
eine gute Würze der Milch." (S. 34-35)

  

VMVersuch über die Müdigkeit (1989)

Getreidedreschen

"Es ist nicht ganz wahr, daß ich früher nur Müdigkeiten zum Fürchten kannte. In der Kindheit damals, Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, war das Dreschen des Getreides mit der Maschine noch ein Ereignis. Es wurde nicht automatisch gleich auf den Feldern abgewickelt – zur einen Seite des Automaten die Ähren hinein, zur andern Seite das Herausfallen der mahlfertigen Säcke –, sondern fand daheim in den Scheunen statt, mit einer Leihmaschine, die in der Dreschzeit von Hof zu Hof ging. Für den Vorgang des Korndreschens wurde eine richtige Kette von Handlangern benötigt, von denen einer jeweils die Garbe von dem im Freien stehenden, für die Scheune viel zu großen und zu hoch beladenen Wagen herunterwarf zum nächsten, der die Garbe, möglichst nicht mit der falschen, der ungriffigen, der Ährenseite voran, weiterreichte zur Hauptperson drinnen an der dröhnenden, die ganze Scheune vibrieren lassenden Maschine, wo die Garbe herumgeschwenkt und an den Ährenspitzen sacht zwischen die Dreschzahnrollen geschoben wurde – großes Prasseln, das da jeweils losbrach –, worauf hinten dann das leere Stroh herausgeschlittert kam und, zum Haufen geworden, vom nächsten Handlanger mit einer sehr langen Holzzinkengabel hinaufgehievt wurde zu den letzten in der Kette, meist den vollzähligen Dorfkindern oben im Scheunendachboden, die das Stroh in die hintersten Winkel zu schleppen und in die letzten freien Schlüpfe zu stopfen und festzutreten hatten, je mehr sich vor ihnen auftürmte, desto mehr schon im Finstern. […]. Aber war das Dreschen wieder einmal glücklich vorbei, die allesübertönende Maschine – auch keine Verständigung schreiend Mund an Ohr möglich – abgeschaltet: Was für eine Stille, nicht nur in der Scheune, sondern im ganzen Land; was für ein Licht, das, statt zu blenden, einen nun umfing. Während sich die Staubschwanden legten, versammelten wir uns mit wankenden Knien, taumelnd und torkelnd, das dann auch schon ein wenig im Spiel, draußen im Hof. Unsere Beine und Arme waren zerkratz; Ährengräten steckten in den Haaren, zwischen Fingern und Zehen. Das Nachhaltigste aber an diesem Bild sind unsere Nasenlöcher: vom Staub nicht nur grau, sondern schwarz, bei den Männern, den Frauen wie den Kindern. So saßen wir – in meiner Erinnerung immer draußen in der Nachmittagssonne – und genossen redend oder schweigend die gemeinsame Müdigkeit, von dieser, die einen auf der Hofbank, die andern auf der Wagendeichsel, die dritten weiter weg schon im Gras der Bleiche, tatsächlich wie versammelt, in einer episodischen Eintracht, auch aller Nachbarn, auch der Generationen. Eine Wolke von Müdigkeit, eine ätherische Müdigkeit vereinte uns damals (bis sich die nächste Garbenladung ankündigte). Bilder solcher Wir-Müdigkeiten aus der Dorfkindheit habe ich noch mehr." (S. 24-28)

Hausbau

"Mit dem Tod der Großmutter, dem In-die-Rente-Gehen des Großvaters, dem Aufgeben der Landwirtschaft härte an dem Hof – nicht nur an diesem einen im Dorf – die große Hausgemeinschaft der Generationen auf, und meine Eltern bauten ein eigenes Haus. Bei diesem Hausbau, bei dem jeder in der Familie, bis auf die Kleinstkinder, irgendwie mittun musste, wurde ich eingespannt und erfuhr so die ganz neue Müdigkeit. Die Arbeit, die in den ersten Tagen vor allem darin bestand, eine Schiebtruhe vollbeladen mit Quadern bergauf zu der für Laster unzugänglichen Baustelle zu bringen, auf über den Schlamm gelegten Brettern, erlebte ich nicht mehr als unsere gemeinsame Arbeit, sondern als Schinderei. Die Mühsal des langwierigen, stockenden, vom Morgen bis Abend wiederholten Bergaufschiebens traf mich mit solcher Wucht, daß ich keine Augen mehr hatte für irgend etwas um mich herum, nur noch vor mich hinstarren konnte, auf die grauen scharfkantigen Ziegelbrocken, die auf dem Steg sich wälzenden grauen Zementströme, und vor allem die Übergänge zwischen den einzelnen Brettern, wo ich in der Regel die Karre ein wenig anzugeben oder zu verschieben hatte, um über die Kanten und Kurven zu kommen. Nicht selten kippte die Last da um, und ich mit. In diesen Wochen bekam ich eine Ahnung davon, was Fron- oder Sklavenarbeit sein kann. […] Hatte ich vorher bei Unannehmlichkeiten nicht schnell eine Ausrede gefunden, diese und jene Schliche gekannt? Nun war ich sogar zu matt, mich auf die bewährten Weisen – 'ich muß lernen, mich aufs Internat vorbereiten'; 'ich gehe euch in den Wald Pilze suchen' – zu drücken." (S. 37-39)

 

VJVersuch über die Jukebox (1990)

Feldhütten

"Auch in seiner Herkunftsgegend waren, an den Wegen durch die Kornäcker, solche Hütten gestanden, freilich aus Holz, und von der Größe eines Bretterverschlags. Wie ein solcher erschienen jene Gehäuse auch von innen, mit dem Licht, das nur durch die Lattenspalten und Astlöcher kam, den Grasbüscheln im Erdboden, den Brennesseln in den Ecken, zwischen den dort angelehnten Ernte-Werkzeugen wuchernd. Und doch hatte er jede der Hütten, auf den paar Pachtäckern des Großvaters, als einen eigenen Bereich erlebt. Ein Holunderstrauch wuchs in der Regel nebenan, dessen Krone dem in das freie Feld ausgesetzten Ding Schatten gab, und dessen Zweigbögen seitlich auch in das Hütteninnere drangen. Und dort war noch Platz für einen kleinen Tisch und eine Sitzbank, die auch draußen beim Strauch stehen konnte. In Tücher gehüllt, zum Frischhalten und gegen die Insekten, der Mostkrug und das Jausenbrot. Im Bereich dieser Verschläge hatte er sich heimischer gefühlt als je in den wohlgebauten Häusern. [...] Dabei sah er die Feldhütten weniger als Zufluchts- denn als Rast- oder Ruhestätten. Es genügte ihm später in seiner Gegend auch ein bloßes Gewahrwerden eines hellgrau verwitterten, windschiefen Unterstands, weitweg auf einem Brachacker, im Vorübergehen, und er spürte förmlich das Herz dorthin springen und in der Hütte für den Augenblick einmal zu Hause zu sein, mitsamt den Fliegen des Sommers, den Wespen des Herbstes und der Kälte der rostenden Ketten im Winter." (S. 76-78)

Jukebox im Espresso

"Die heimatlichen Feldhütten gab es lange nicht mehr; nur noch die viel größeren, allein zum Heuaufbewahren dienenden Wiesenscheunen. Aber schon zu ihrer Zeit, sehr früh, war für ihn ihr Haus- oder Örtlichkeitszauber auf die Jukeboxen übergegangen. Schon als Halbwüchsiger, mit den Eltern, ging er nicht ins Gasthaus, und nicht zum Limonadentrinken, sondern zum 'Wurlitzer' ('Wurlitzer Is Jukebox', war der Slogan), zum Plattenhören. Was er von seinem Gefühl des Angekommen- und Aufgehobenseins, jedesmal ja nur vorübergehend, im Bereich der Ackerhütten erzählt hatte, galt wörtlich auch für die Musicboxen. […] In dem hallenden Stahlgitarren-Ritt von 'Apache' wurde das miefkalte und verrülpste 'Espresso-Stübchen' an der Durchfahrtsstraße von der 'Stadt der Volksabstimmung von 1920' zur 'Stadt der Volkserhebung von 1938' angeschlossen an eine ganz andere Elektrifizierung, mit der man, an der leuchtenden Skala in Hüfthöhe, die Nummern von 'Memphis, Tennessee' wählen konnte, in sich selbst den geheimnisvollen 'Schönen Fremden Mann' heranwachsen spürte und das Rumpeln und Quietschen der Laster draußen auf der Bundesstraße umgewandelt hörte in das gleichmäßige sonore Dahinziehen eines Trecks auf der 'Route Sixty-Six', mit dem Gedanken: Gleich wohin einmal – nur Aufbruch! […] In den Jahren darauf verloren die Jukeboxen für ihn von ihrer Magnetkraft, weil er die Musik nun eher in der Wohnung hörte, […]. Ihr Sinn kehrte dagegen auf der Stelle zurück bei seinen episodischen Zwischenstationen dort, wo eigentlich seine Stammgegend hätte sein sollen. Wo die einen ihr erster Weg daheim 'auf den Friedhof', 'an den See' oder 'in das Stammlokal' führte, so ihn, oft gleich von der Bushaltestelle, nicht selten zu einer Musicbox, von der gehörig durchgedröhnt er sich, hoffentlich, weniger fremd und ungelenk auf seine übrigen Wege machte." (S. 78ff., 84, 91)

  

WK"Warum eine Küche?" (2001/2003)

Erinnerung

"'Was siehst du bei dem Wort 'Küche', 'cuisine', 'cocina', 'kuhinja', 'kitchen'?'" [...] 'Ich sehe den Eimer mit der leeren Tablettenschachtel, die Tabletten geschluckt von meiner Mutter am Vorabend ihres Todes. Und ich sehe den wahnsinnigen Holzfäller hereinstürmen mit seiner Axt, stumm, die Augen geschlossen. [...] Und ich sehe meine Großmutter, wie sie sich langlang die Finger an der Schürze abtrocknet, bevor sie meine Schulzeugnisse in die Hand nimmt. Und ich sehe den ältesten Sohn meiner Großeltern zur Küchentür hereinkommen, in der Hand den an seine Eltern adressierten Brief der Armee, worin die Nachricht vom Tod des anderen Sohnes steht, gefallen auf dem Feld der Ehre in der Taiga. Und ich sehe meinen Großvater zur Tür hereinkommen, in der Hand den Brief des Armeekommandos mit der Nachricht vom Tod des ältesten Sohns, gefallen auf dem Feld der Ehre irgendwo auf der Krim, und ich sehe meine Großmutter die Hände in das offene Herdfeuer stecken, und den Schatten der Bombenflugzeuge augenblicksweise das Küchenfenster verdunkeln, und ich rieche den frisch gewaschenen Fußboden, und höre das Sieden des Wassers im Kessel, aufgestellt zum Kochen der Würste am Schweineschlachttag, und ich sehe und höre die Hagelschloßen gegen die Fensterscheiben prallen, und den Schnee, wie er die Scheiben vibrieren läßt, und ich sehe und höre den dritten und letzten der Söhne bei seiner Heimkehr aus dem Krieg mitten in der Nacht gegen die Scheiben hämmern. Die letzte Schlacht kam zum Stehen genau vor den Fensterscheiben, während die Töpfe, die Gläser, die Pfannen, die Kasserollen und das Radio dröhnten von der neuen Metro unterhalb unserer Küche und die Karotten, die Rüben, die Radieschen, die Ansichtskarten, die Briefmarken, die Zeitungen und die Äpfel auf dem Tisch der Küche gelb wurden." (S. 18-20)

 

DNDie morawische Nacht (2008)

Alte Landstraße

"Jene Alte Straße war längst keine Fahrstraße mehr. Das war sie gewesen vor dem Krieg, vor den Kriegen, ein das Land durchschlängelndes Schotterband. Danach lief sie, in wechselndem Abstand, neben der neuen, mehr oder weniger geraden Asphaltstraße her. Diese diente als Überlandstraße, während die nun Alte Straße – so hieß sie auch –, obwohl sie mit ihren vielen Kurven um einiges länger war, seit jeher den Anschein einer bloßen Landstraße hatte, zusammengesetzt aus hundertundeins Teilstücken. Und inzwischen war sie nur noch als Fußweg benutzbar, und auch so höchstens buchstückweise – indem von ihr nichts als freilich immer wieder ausgiebige Abschnitte übriggeblieben waren. Vor den fehlenden Segmenten hatte man sich aufs Geratewohl weiterzuorientieren, und auch, was von der Schotterstraße noch begehbar war, zeigte sich oft mit Gestrüpp überwachsen – sehr viele Geher lockte die Alte Straße nicht an (zumal sie nirgends als Wanderweg markiert erschien), einige dafür aber umso mehr." (S. 401)

Blick aus dem Flugzeug auf das Dorf

"Wieder nahm er vorher, um an den Ausgangspunkt seines alten Heimwegs zu gelangen, ein Flugzeug. Es war ein Inlandsflug, die am selben Tag eröffnete Linie von G. nach K., und die die sollte, nach Flugplan, ziemlich genau über das Dorf gehen. Er saß in der kleinen Maschine, die niedrig flog, nicht viel höher als ein Hubschrauber, vielleicht auch, weil es der Jungfernflug war und den Fluggästen etwas zum Erblicken geboten werden sollte. Wie gewünscht, war klares und ruhiges Wetter, und er saß, auch das wieder wie gewünscht, am richtigen Fenster und sah dann unten, nah, in scharf umrissenen Einzelheiten, die Kindheitsgegend, die er noch nie aus der Vogelperspektive angeschaut hatte, und vor allem nicht im Verein mit den benachbarten Gegenden: Jetzt aus dem Flugzeug oder von dem fliegenden Teppich zeigte sie sich mit denen im Zusammenhang, und darüber hinaus mit dem ganzen Land – mochte das, was sich so sehen ließ, auch gar nicht alles vom Land sein. Und zugleich erkannte er den Baum in der Dorfmitte, den wohl schon abgestorbenen Kirschbaum, samt dem roh betonierten Quellhäuschen an seinem Fuß, und daneben das aufgelassene, immer noch gelbleuchtende Dorfwirtshaus, und gegenüber die Mauer rund um den fremden Obstgarten, über die man nicht nur einmal geklettert war zum Apfel- und Birnenstehlen. Und da, die Scheunenwand des Großvaterhauses, des Geburtshauses, samt der in die Bretter gesägten Entlüftungsluke, in Form eines Kleeblattes, eines, versteht sich, vierblättrigen. Oder war das wieder so eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung in seinem Inneren, aus einer sehr fernen Zeit? Und dort die Stelle mit den Kinovorschauplakaten an einer anderen Scheunenwand, ein Plakat pro Monat, kleine weiße Blätter mit nichts als den Filmtiteln, mit nichts als Schrift, nach all den Monaten, Jahren, Jahrzehnten buchdick in- und übereinandergeheftet, dann Ende, letztes Blatt, Schluß der Kinogeschichte. Und jetzt der Friedhof mit der haushohen Wehrmauer, 'gegen die Türken', wo über das Schindeldach gerade eine Katze lief. Und jetzt der See, verlandet? nein, doch nicht, nicht ganz, ein Wasserauge noch offen inmitten des Schilfwalds, die Schilfhalme im schwarzen Schlamm, und dieser zwischen den Zehen frisch hervorquellend, und die Blutegel im schwarzen Schlamm, und, und, …" (DN 402-403)

 

VPVersuch über den Pilznarren (2013)

Pilzsammelstelle​

"Die Pilzsammelstelle, wo er, zwei oder drei Sommer lang, seine Schätze gegen bares Geld ablieferte, befand sich in einem abgelegenen, allein stehenden Haus außerhalb des Dorfes. Dieses Haus war höher und breiter als die anderen Wohnstätten in der Gegend und unterschied sich von denen auch in der Bauweise und Form, klobig, fremdartig, weder Bauern- noch Bürgerhaus, eher in der Art der damaligen 'Armenhäuser', wo hinter einem jeden der staubigen, zum Teil mit Pappe ersetzten Fenster mehr in der Ahnung als in der Gegenwart eine regloses Menschengruppe stumm die Augen aufgerissen hatte – nichts mehr im Blick oder Ohr, und schon gar nicht den oder die in der Nebenkammer. Und das Gebäude diente in der Tat als eine Art Notunterkunft, oder Auffanglager, für eine einzige Familie, die nach dem Krieg aus einem nahen slawischen Land geflüchtet oder bloß so ausgereist, hier ihre vorläufige Asylstätte hatte.“ (S. 25-26)

 

VBVor der Baumschattenwand nachts (2016)

Erinnerungen

"Mein Ahn sagte im Traum: 'Unsere Liegenschaft in Stara Vas hat die Gestalt eines Glimmerplättchens von der Svinjska planina. So dünn auch, und so zerbrechlich' ('Immer noch Sturm')" (S. 79) 

"Die Zeit schlägt Haken. So zum Beispiel jetzt im Gesicht deines Gegenübers in Form der Kegel von der alten Kegelbahn beim Gasthaus von Stara Vas" (S. 126)

"Der Kuhweidenregen Ende Oktober, wie damals in Stara Vas dem Kind als Kuhhirten: Noch fällt er nur, und fällt, und fällt, und prasselt, und prasselt, und mauschelt, und mauschelt, so wie oben in den Bäumen auf die letzten Blätter, so unten auf das abgefallene Laub: Keep on falling, Kuhweidenregen!" (S. 231)

"Nach dem tiefstmöglichen Einatmen sich, mich ausatmen – bis hinaus und hinein in die Preiselbeerstauden der Svinjska Planina 'ob' Stara Vas, bis hinaus und hinüber zur Punta von Piran auf Istrien" (S. 239)

"Ostersonntag: Und wieder sitze ich in Stara Vas zusammen mit den Vorfahren auf der Hofbank in der Sonne, und der Schatten eines Falters gaukelt an uns vorbei. Gaukelt? Und wenn –" (S. 254)

"'Gehe einen Feldweg, der mitten durch Äcker führt, und wenn es still genug ist, wirst du von weither die Knechte hören, die mit ihren Tieren reden' (Kurt Badt). Und weiter: 'Über dem Leben der Knechte liegt eine Art Halbdunkel. Sie sind wie nur halberwachte Menschen, und ihre Schicksale sind schattenhaft, geisterhaft vergrößert, unfaßbar' (und ich hörte wieder den Knecht namens 'Luke' in den Sommernächten von Stara Vas, wo aus seiner Schlafkammer in einem fort sein so lautes wie sanftes wie unverständliches Reden und Rufen kam und tönte von einem Dorfende zum andern)" (S. 266)

"Meine Heimat? Ein paar Textfragmente, der Bildstock an der Römerstraße, und der Misthaufengeruch von Stara Vas" (S. 305)

"Das Zeit-Raum-Schiff aus der Kindheit, fährt es noch? Befördert es noch? Ja, wie eben gerade, die Anker gelichtet vom Gewitterregenwind unter der Korkeiche im 'Massif des Maures' – Zeit-Raum-Schiff von da zurück nach Stara Vas, anlegend vor dem Großelternhaus, wo ich vor mehr als sechzig Jahren auf dem Zimmermannsstuhl des Großvaters neben der Haustür saß und, geschützt unterm Dachvorsprung, in den Regen (wie hier ein Sommerregen) schaute, nicht genäßt von den Tropfen, aber immer wieder leicht angeweht und benetzt; und mein unwillkürliches Selbstgespräch jetzt dazu: 'So belächelt ich auch worden bin damals von der versammelten Sippe – ich hatte recht, mich so an den Regen zu setzen'" (S. 305ff.)

"Für einen Augenblick verschwand ich im Schlaf, und als ich die Augen wieder auftat, fand ich mich vor der Höhle hoch oben im Marmorkalkfelsen von Stara Vas, im Volksmund genannt 'Bockfurzhöhle'" (S. 379)

"Seltsam, wie sie mir immer wieder in den Sinn kommt, jene rätselhafte Inschrift auf dem längst verschwundenen Grabstein im Friedhof von Stara Vas: '...ist in seine fluidale Urheimat zurückgekehrt'. – Und was sehe ich, was sah ich gerade vor und in mir als Bild solcher Rückkehr? Das dichte gelbe Schilf des Dorfsees, und das Boot, den 'Nachen', den 'Schinakel' (šinakl), in dieses gelbe Schilfmeer eintauchend und darin verschwindend" (S. 413)

 

DUUDie Unschuldigen, ich und die Unbekannte vom Rand der Landstraße (2016)

Milchstand

"Und es geschieht jetzt, daß ICH mich am Rand der Landstraße niederlasse. Da zeigt sich nämlich eine Sitzgelegenheit, ein Gestell aus Holz, Stein, Beton, eher ein Verschlag. Auch Schilfteile darunter. Es könnte sich um einen aus früheren Zeiten am Straßenrand übriggebliebenen, längst ausgedienten Milchstand handeln, oder auch um den dachlosen Rest einer seit langem aufgelassenen Bushaltestelle, einer Schafhürde oder die Überbleibsel  einer Imbißbude?" (S. 7f.)