Zitat der Woche 04/3

Achtung: dieser Eintrag ist nicht mehr aktuell!

Am Ufer blüht ein Fliederstrauch, und die Berge hinten nehmen gegen Abend die lila Fliederfarben an. Ein Greis steht auf der Brücke, mit halbgeschlossenen Augen, und sagt: »So leise ist dieser Kanal — so unaufdringlich, so bescheiden. Dieses Wasser muß siegen!« Ein Mädchen im weißen Kittel hält kurz mit dem Fahrrad und zündet sich, einen Fuß auf das Geländer gestützt, eine Zigarette an. Die hohen Saumgräser, sogar die starren Disteln, rascheln im Luftstrom wie Schilfhalme. In einer rutenreichen Weide pfeift eine Amsel, fast versteckt in dem Blattwerk, gleichwohl zu erkennen an der von Ton zu Ton changierenden Kehle. Die Weide rührt sich, so wie darunter das Wasser sich rührt. In der allein stehenden Fichte saust nun ein ganzes Land; ja, über der kleinen leeren Brücke blaut einmal der Himmel ganz Europas. 

(aus: Peter Handke: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 246f.)